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Der große Bluff

(KONKRET, September 2018)

Fake Science. Gekrochen aus den Untiefen des Sommerlochs kam eine Phrase in die Fernsehkanäle und Zeitungsspalten. Die ARD-Doku „Fake Science. Die Lügenmacher“ von Svea Eckert und Peter Hornung berichtet über die Plage der Pseudowissenschaft, „ein Begriff, der jetzt wie Gift an der Forschung klebt“ (Die Zeit). Und allüberall ist ein Wehklagen, und die Kommentatoren fragen einander: Ist es jetzt eigentlich okay, dass wir darüber reden? Oder verunsichern wir damit die Leute und spielen den Populisten in die Hände? Wissenschaft, ein Buch mit sieben Siegeln.
Predatory publishers, im deutschen Sprachraum Raub- oder Piratenverlage genannt, haben ein cleveres Geschäftsmodell entwickelt. Sie lassen sich für die Veröffentlichung der Aufsätze bezahlen, wie es bei Open-Access-Zeitschriften üblich ist. Allerdings sparen sich diese Verleger alles, was nicht unbedingt notwendig scheint: die inhaltliche Begutachtung, das Layout, manchmal sogar den Webspace - nach ein paar Tagen verschwindet der Aufsatz wieder aus dem Netz. Einige zeigen eine beachtliche kriminelle Energie, sie machen zum Beispiel falsche Angaben über den Impact-Faktor der Zeitschrift, der den Einfluss der Publikation wiedergibt, oder nennen Forscher als wissenschaftliche Beiräte, die davon keine Ahnung haben.
Nun haben Eckert und Hornung zusammen mit dem Rechercheverbund aus NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ und dem Internationalen Netzwerk Investigativer Journalisten (INIJ) also herausgefunden, was seit zehn Jahren jeder wissen kann, der einen Browser zu bedienen versteht: Auch deutsche Forscher und Lobbygruppen nutzen diese unseriösen Publikationsmöglichkeiten. Mit ihrer Hilfe geben sich etwa die Klimaleugner um das Europäische Institut für Klima und Energie (Eike e. V.) und die Firmen Airbus und Bayer den Anschein wissenschaftlicher Grundlagen. „Etwa 5.000 bis 6.000 deutsche Autoren“ zählen die Journalisten zu den Hochstaplern – warum diese Zahl so vage ist, möchte ich gerne wissen –, darunter Angestellte renommierter und steuerfinanzierter Universitäten und Forschungsinstitute.
Die Raubverlage erzeugten eine „wissenschaftliche Scheinwelt“, warnen die Autoren. „Wenn wir nicht mehr unterscheiden können, was bewiesen ist und was gefaket, wem können wir dann noch trauen?“ So stilisieren sie die Raubverlage zu einem wesentlichen Problem der Wissenschaft. In Wirklichkeit sind sie so repräsentativ für den Forschungsbetrieb, wie unverlangte Kreditangebote per E-Mail die Finanzindustrie ausmachen. Ein Problem aufzubauschen, um maximale mediale Reichweite zu kriegen, wäre bloß ärgerlich. Diese Doku deckt einen echten, allerdings allgemein bekannten Skandal zu, indem sie angeblich einen anderen aufdecken: Das wissenschaftliche Publikationswesen ist kaputt.
Der Beitrag über Fake Science ist selbst Fake News, eine Geschichte voller Löcher und Auslassungen. Regelrecht unanständig wird es, wenn die Autoren das Schicksal Miriam Pielhaus als Fallbeispiel für die angeblich verheerenden Folgen der Pseudowissenschaft anführen. Die Fernsehmoderatorin litt an Brustkrebs, wurde zunächst erfolgreich behandelt, nach einigen Jahren kam das Rezidiv. Statt die fünfte Chemotherapie durchzumachen, besorgte sie sich ein in Deutschland nicht zugelassenes Medikament, so wie es viele Totkranke tun, angeblich „überzeugt, weil sie glaubte, seriöse wissenschaftliche Forschung studiert zu haben“. Kaum überraschend verstarb sie trotzdem, wofür Eckert und Hornung anscheinend das vermeintliche Heilmittel statt der Krebserkrankung verantwortlich machen.
Schon klar, jede gute Story braucht einen Schurken. Zwischen den Quacksalbern und den hehren Forschern trennscharf zu unterscheiden, fällt allerdings nicht so leicht, wie es sich die pseudoinvestigativen Journalisten machen. Eine Veröffentlichung bei einem der sogenannten Raubverleger kann durchaus solide und faktisch richtig sein, während in hochseriösen Blättern wie „Nature“ schon horrender Unsinn erschienen ist. Wissenschaftliche Fachmagazine lassen die eingereichten Texte begutachten, die Raubverleger nicht. Aber wie gründlich und wie wahrheitsliebend begutachtet wird, ist eine andere Frage. Auf der von dem amerikanischen Bibliothekar Jeffrey Beal erstellten Schwarzen Liste zweifelhafter Verlage tauchte 2015 Frontiers auf, an dem unter anderem die mächtige Holtzbrinck-Gruppe beteiligt ist. Zur gleichen Zeit stand Frontiers auf einer einflussreichen Weißen Liste empfehlenswerter Open-Access-Verlage.
Die vermeintliche Schein- oder Parallelwelt der Raubverlage reicht in den legitimen Forschungsbetrieb hinein. In gewisser Weise sind sie lediglich die peinlichen Verwandten der großen Wissenschaftsverlage – meinetwegen nur entfernt verwandt, aber immerhin. Sie sind schmuddelig und obskur, ihre Geschäftspraktiken dreist. Springer Nature, Elsevier, Wiley und Sage sind dagegen auf ihre Anständigkeit bedacht, denn von ihr leben sie gut. In „Nature Communications“ einen Artikel zu veröffentlichen, kostet 5.200 Dollar. Wissenschaftlichkeit bedeutet unter anderem, das eigene Vorgehen nachvollziehbar zu machen. Dann müssten andere die gleichen Ergebnisse erzielen, wenn sie das Gleiche tun - so wenigstens die Idee. Eine große Umfrage von „Nature“ ermittelte jedoch vor zwei Jahren, dass etwa zwei Drittel der Befragten experimentelle Ergebnisse anderer Wissenschaftler Experimente nicht mit den gleichen Ergebnissen wiederholen konnten. Die Hälfte scheiterte daran, ihre eigenen Ergebnisse mit dem gleichen Versuchsaufbau zu reproduzieren. Wir stecken tief in einer „Krise der Replizierbarkeit“. Nun suchen alle nach einer anderen Erklärung dafür als der naheliegenden: Es wird enorm viel Halbgares und Unverdautes veröffentlicht.
Den Niedergang des wissenschaftlichen Publikationswesens haben nicht die Raubverlage verursacht. Für ihn gibt es viele Gründe, darunter die Forschungspolitik, die seit Jahrzehnten entsprechend der Lehre vom New Public Management auf mehr Markt und Konkurrenz, auf Konzentration und die Steuerung über Kennzahlen wie Impact-Faktoren oder den Hirsch-Index, der das Ansehen eines Wissenschaftlers in seinem Fach anzeigen soll, setzt. Die erwartbare Folge: Forschungsergebnisse werden ausgewalzt, neu verpackt und verteilt, zurechtgebogen, teilweise gefälscht. Wer unbedingt Kennzahlen haben will, wird welche bekommen. Nur bedeuten sie irgendwann nichts mehr. Nachwuchswissenschaftler geben sich als Professoren aus, um ihre eigenen Beiträge zu begutachten. Gutachter verlangen von Autoren, ihre Publikationen zu zitieren – sonst fällt das Gutachten schlecht aus. Zitierkartelle und andere akademische Rackets gab es schon immer, aber niemals zuvor war ihnen die Wahrheit so gleichgültig.

 

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