Home

Texte

Kommentar

Rezensionen

Radio

Schublade

Bilder

Links

 

Kontakt

 

 

 

Marktwirtschaft (wissenschaftlich)

(Erschienen in Literatur-Konkret Nr. 30 am 30. 9. 2005)

Wiedergelesen: Wissenschaftlicher Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (2002):
"Reform des Sozialstaats für mehr Beschäftigung im Bereich gering qualifizierter Arbeit"

Im Sommer 2002 - die Hartz-Kommission hatte sich gerade formiert - veröffentlichte das Wirtschaftsministerium einen Bericht. Drei Jahre später, nachdem große Teile der Vorschläge der Wissenschaftler durch die Hartz-Gesetze verwirklicht wurden, lohnt sich die Lektüre noch einmal.
Der Wissenschaftliche Beirat des Ministeriums besteht aus 37 ehrenamtlichen Mitgliedern, allesamt Hochschullehrer der Wirtschafts- oder Rechtswissenschaften. Wer ihm angehört, bestimmt der Rat in der Art des peer reviews selbst: er schlägt neue Mitglieder vor. Seinen Bericht betitelte der mit "Reform des Sozialstaats für mehr Beschäftigung im Bereich gering qualifizierter Arbeit", eigentlich gemeint war "niedrig entlohnte" Beschäftigung. Schon damals galt Deutschland als der kranke Mann im Herzen Europas, und der Beirat dachte deshalb nach über "Therapiemaßnahmen" (Seite 25). Vor der Therapie stellte er die Diagnose: den "leistungsschwächeren Mitgliedern der Gesellschaft" sei der Weg auf den Arbeitsmarkt "allzu häufig" verbaut durch die staatlichen Sozialsysteme. "In der Regel nämlich werden staatliche Leistungen nur dann zur Verfügung gestellt, wenn man nicht arbeitet, und weitgehend entzogen, wenn man es tut." (4) Das hat natürlich einen gewissen Sinn: wovon lebt der, der nicht arbeiten und damit Lohn erhalten kann? Und warum überhaupt muss, wer arbeitet und damit doch seinen Lebensunterhalt bestreiten können sollte, vom Staat Leistungen erhalten?
Mit so grundsätzlichen, geradezu ins Philosophische lappenden Fragen hielt sich der Beirat nicht auf; über sie lässt sich mit wissenschaftlicher Präzession ohnehin kaum etwas aussagen. Er zieht abgesichterte "ökonometrische Modelle" (28) der Spekulation vor. Sicher schien ihm: staatliche "Alternativlöhne" führten zu allzu hohen "Anspruchslöhnen"; das heißt, sind Sozialhilfe und Lohn auf vergleichbarem Niveau, entscheiden sich die Erwerbsfähigen fürs Nichtstun. Es gehe also darum, "Mittel von Nichtserwerbstätigen in Richtung auf Erwerbstätige umzuschichten, die bei ihrer Arbeit nicht genug verdienen. Durch diese Umschichtung sinken die Anspruchslöhne, und die Marktlöhne für einfache Arbeit kommen ins Rutschen." (4-5) Denn zur die "Schaffung eines Niedriglohnsektors" seien neue Stellen nötig, "und dies setzt eine Reform der Sozialhilfe voraus, der die Anspruchslöhne und mit ihnen die tatsächlichen Löhne senkt" (42). So klar formulieren Politiker in der Öffentlichkeit selten.
"Der Sockelbetrag der Sozialhilfe" solle "deutlich abgesenkt" werde. Anhand ihrer Analyse der Erfahrungen in den USA und Großbritannien gelangte der Beirat zu folgenden Empfehlungen: die Politik müsse sich am "amerikanischen Weg" (39) orientieren, d.h. die finanzielle Unterstützung steigt, wenn eine Arbeit angenommen wird. Das habe gleich vier Vorteile: erstens wird der nun Beschäftigte "mit gewisser Wahrscheinlichkeit den Aufstieg in höhere Positionen der Lohnhierarchie schaffen, aus denen heraus er dann steuerpflichtig" und damit die Staatskasse entlasten wird. Zweitens verbessere sich die familiäre Situation in den von Arbeitslosigkeit betroffenen Familien, "die Fehlorientierung, die bei den Eltern erlebte Arbeitslosigkeit oder Schwarzarbeit auf die Kinder hat, wird vermieden". Drittens: "Die Aufnahme einer regelmäßigen Beschäftigung lenkt von problematischen Ersatzaktivitäten ab, die bis zu kriminellen Handlungen reichen." (40) Viertens: "Schließlich wäre es legitim, wenn die Steuerzahler als Finanziers der Grundsicherung positive Transfers an die Bereitschaft der Empfänger knüpfen, durch Arbeit ab der Finanzierung ihres Lebensunterhaltes beizutragen." (Auf der gleichen Seite wird übrigens vermerkt, "Werturteilsfragen" könnten nur von der Politik beantwortet werden.)
"Angesichts der hohen Staatsquote und der exorbitanten Abgabenbelastung normaler Arbeitsverhältnisse unter den heutigen Verhältnissen kommt nur eine für den Staat belastungsneutrale Reform in Frage." (26). Von hier zu den 1 Euro-Jobs war ein kleiner Schritt. Solche Maßnahmen beurteilte der Beirat allerdings skeptisch wegen der möglichen Verdrängung regulärer Arbeit. Die Lösung? "Der Staat (soll) nur in einem rechtlichen Sinne als notfalls möglicher Arbeitgeber (auftreten), doch die Arbeit auf dem Weg über Dienstleistungsverträge im privaten Sektor verrichten (lassen)." (45)
Die Beiräte schätzten das Potenzials im Niedriglohnbereich auf 2,3 Millionen Arbeitsplätze. Nicht Faulheit sei das Problem, sondern Mangel an Stellen. Das aber sei nicht die Schuld der Marktwirtschaft. "Die Marktwirtschaft ist in der Lage, fast allen, die bereit sind zu arbeiten, auch Arbeit zu verschaffen. Man muss die Marktwirtschaft nur wirken lassen." (13) Die Zahl der Minijobs ist bis Ende 2004 auf 7,3 Millionen gestiegen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzte kürzlich, diese hätten die Einnahmen der Sozialsysteme seitdem um etwa eine Milliarde Euro geschmälert. Im Februar 2005 ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland so hoch wie nie zuvor. Was zu beweisen war.