Home

Texte

Kommentar

Rezensionen

Radio

Schublade

Bilder

Links

 

Kontakt

 

 

 

 

 

Sich aufrichten
Bisher unveröffentlichte Briefe zeigen die vielen Seiten des Jean Améry.

"Es ist doch eigentümlich, daß man nicht um seiner wirklichen bescheidenen Verdienste willen genannt wird, sondern immer wieder aus Gründen politischer Aktualität." Fast resigniert schreibt Jean Améry 1976 an einen alten Freund. Lange hatte ihn die bundesdeutsche Öffentlichkeit ignorierte, um schließlich den ehemaligen Widerstandskämpfer und Holocaustüberlebenden zur “moralischen Instanz” zu erklären. Den Einladungen zu Fernsehdiskussionen und Vorträgen, die ab den späten 60er Jahren eintrafen, fügte er sich widerwillig: "Wer ein solches Buch veröffentlicht, geht eben eine Verpflichtung ein."
Damit meinte Améry seine "Bewältigungsversuche eines Überwältigten", im Jahr 1966 unter dem Titel "Jenseits von Schuld und Sühne" veröffentlicht. Bis heute gehören sie zum Klarsten und Tiefsten, was über Antisemitismus, Holocaust, Folter und die conditione humaine der Überlebenden geschrieben wurde. Ihr Autor schrieb aus eigener Erfahrung: 1943 wurde der Österreicher Hanns Maier, als Mitglied der belgischen Résistance von der Gestapo verhaftet, schwer gefoltert und kam in verschiedene Lager, darunter auch nach Auschwitz. Nach dem Krieg kam eine Rückkehr nach Österreich nicht in Frage, stattdessen blieb er in Brüssel, nahm das französisch klingende Pseudonym an und lebt vom freien Journalismus, nur knapp über dem Existenzminimum. Öffentlicher Erfolg stellt sich erst mit "Jenseits von Schuld und Sühne" ein. Das Buch machte ihn bekannt und verschaffte ihm, nach den bitteren Jahren als "freischnorrender Schriftsteller" (Améry über Améry), endlich ein leidlich gesichertes Auskommen. Es folgten unter anderem "Über das Altern" und "Hand sich legen", ein Plädoyer für das Recht auf Suizid. 1978 nahm er sich das Leben.
Nun wurde ein Teil seiner Korrespondenz in einem Band der Werkausgabe veröffentlicht, die seit 2002 bei Klett-Cotta erscheint. Es sind reich ausgestatte Bücher mit umfangreichem Apparat und leider auch stolzem Preis. Zu einem großen Teil sind die Briefe an Verleger und Redakteure gerichtet (an denen prekäre Lohnschreiber von heute lernen können, wie man mit einer würdelosen Situation würdevoll umgeht), an andere Autoren wie zum Beispiel Alfred Andersch, private Freunde und Leser. Laut dem Herausgeber Gerhard Scheit wurde ein Drittel der aufgefundenen Briefe hier abgedruckt. Viele wurden also weggelassen, leider ohne dass die Gründe für die Auswahl erklärt würden. Außerdem sind sie unter Kapitelüberschriften zusammengefasst, die ihre Entstehungszeit gleichsam unter eine Art Leitthema stellen (zum Beispiel "Verlorenheit nach der Befreiung: 1945 bis 1950" oder “Diskurse über den Freitod: März 1974 bis Oktober 1978”). Nicht nur das: Zwischen zwei dieser Kapitel wurde der Aufsatz “Zwischen Vietnam und Israel” gesetzt, in dem Améry im Juni 1967 kritisierte, wie gleichgültig sich die Linke gegenüber der Existenzbedrohung des Staates Israel im Sechstagekrieg verhielt. Das Engagement für Israel als die Klammer in Amérys Leben und Werk? Das entspricht den Interessen des Herausgebers mehr als denen des Autors.
Um Jean Améry kennen zu lernen, eignet sich dieses Buch eher nicht. Wer das will, sollte mit “Jenseits von Schuld und Sühne” beginnen. Wer ihn aber kennt, findet diese Briefe aufregend. Sie zeigen einen Engagé, der sich widerwillig, aber pflichtbewusst auf die "Kritik im Handgemenge" (Marx) einlässt. Der "neopositivistisch beeinflusster Marxeo–Existenzialist" (noch einmal Améry über Améry) kritisiert sowohl den "Jargon der Dialektik" der Frankfurter Hoch–Schule als auch den aufkommenden Strukturalismus. Ohnehin sind ihm geschlossene Denksysteme suspekt geworden: "Ich habe es aufgegeben, zu einer gefestigten Weltanschauung gelangen zu wollen; eine solche ist unter den heutigen Umständen wohl gar nicht mehr möglich. Das Beste, was sich noch erzielen lässt, ist ein Denken, das sich mit sich selbst aufrichtig ist."
Der Begriff der Aufrichtigkeit ist der Angelpunkt von Amérys Werk und Leben bis zum Schluss, bis zu der Nacht in einem Salzburger Hotel, als er sich vergiftete. In dem Abschiedsbrief an seine Frau heißt es: "Ich habe – mit Ausnahme der Jahre der Niedertracht – aufrecht gelebt und will aufrecht sterben." Und an seinen Verleger: "Ich hielt mich aufrecht, solange die Kräfte reichten." L'homme est le style même: Amérys "unbestechlicher Blick", wie es immer wieder heißt, beruht darauf, dass er gleichzeitig nüchtern und leidenschaftlich schreibt, ohne Phrasen, aber immer formbewusst als Literat. Er legt argumentierend den Gang und das Ziel seiner Argumentation offen, insofern ist sein Stil geradezu gestisch (im Sinne Bertold Brechts). Er muss weder manipulieren noch polemisieren, weil er um die Wahrheit seiner Sache weiß. An dieser Art zu denken und zu schreiben können sich auch die Leser aufrichten.

Jean Améry (2007) Briefe. (Werke, Band 8) Stuttgart: Klett-Cotta.

 

Mehr Rezensionen