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Lebensraum für Mediziner
(KONKRET, April 2009)

Zwei neue Veröffentlichungen über die medizinische Forschung im Nationalsozialismus beschreiben die „Selbstmobilisierung“ der Zunft.

Im Jahr 1937 war knapp die Hälfte der deutschen Ärzte Mitglied der NSDAP. Ein Viertel war in der SA organisiert. Ihr Organisationsgrad lag um das siebenfache über dem Durchschnitt der männlichen Bevölkerung. Verglichen mit den Schullehrern – also mit einer akademischen Berufsgruppe – waren sie immer noch doppelt so häufig in der Partei. Was zog sie hin zum Nationalsozialismus? Dass er „Lebensraum für den geistigen Arbeiter“ versprach, wie es zeitgenössisch hieß, und die jüdischen Ärzte als Konkurrenz ausgeschaltete? Bestimmt, aber die handgreiflichen Vorteile reichen zur Erklärung nicht aus. Die Bewegung und die Mediziner standen sich ideologisch nahe. Man teilte eine Vision: die Gesellschaft grundlegend und entsprechend wissenschaftlicher Erkenntnis umzugestalten.
Im Jahr 1937 formulierte Hans Reiter, der Präsident des Reichsgesundheitsamtes (RGA), das eugenische Programm so: „Nur der Staat wird seine Existenz sichern können, der durch eine verstandesmäßig gesteuerte quantitative und qualitative Menschenökonomie die größtmögliche Entfaltung seiner Macht und damit seiner Existenzsicherung gewährleistet.“ Zur „rationalen“ „Menschenökonomie“ gehörten bekanntlich Sterilisierungen, dann mörderische Menschenversuche und Vernichtung. Reiter selbst war, wie viele Funktionäre der NS-Gesundheitspolitik, ebenso sehr politischer Ideologe wie Naturwissenschaftler.
Zwei neue Bücher über die medizinische Forschung im NS zeigen eindrucksvoll, wie eng und effektiv die Mediziner mit Staat und Partei zusammenarbeiteten: „Das Robert-Koch-Institut (RKI) im Nationalsozialismus“ heißt das eine, das andere „Der Planbare Mensch – Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die menschliche Vererbungswissenschaft“. Sowohl RKI als auch DFG haben selbst die Autorinnen beauftragt, ihre Geschichte darzustellen. Dennoch machen die Untersuchung klar, dass die Wissenschaft nicht etwa „instrumentalisiert“ wurde, sondern sich selbst in den Dienst der Rassepolitik stellte und sie teilweise noch radikalisierte. Die Historikern Anne Cottebrune und Autorin von „Der planbare Mensch“ spricht treffend von einer „Selbstmobilisierung“.
Bereits in der Weimarer Republik entstand ein dichtes gesundheitspolitisches Netz aus Universitätsfakultäten, Max-Planck-Gesellschaft (damals Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft), RKI, DFG und staatlichen Stellen. Häufig wechselten Forscher von einer Organisation zu einer anderen, man kennt und unterstützt sich und begutachtet gegenseitig die jeweilige wissenschaftliche Leistung. Obwohl die Forschungsorganisationen auf ihre „wissenschaftliche Selbstverwaltung“ pochen, arbeiteten sie dem Staat sozusagen zu. Die DFG förderte in erster Linie, was der staatlichen (Gesundheits-)Politik nützlich sein könnte. Das RKI war ohnehin seit seiner Gründung auf staatliche Aufträge angewiesen, besonders auf Aufträge des Militärs. Es entstanden „biopolitische Netzwerke“ (Axel Hüntelmann). Noch treffender ließe sich die Verflechtung als „wissenschaftlich-militärisch-industrieller Komplex“ beschreiben, der nicht nur bevölkerungspolitische Aufgaben, sondern auch strategische Interessen teilte. Beispielsweise profitierte das RKI unmittelbar von Aufrüstung und Kolonialpolitik, weil ihr neue Aufgaben im Bereich der Infektionsbekämpfung und in der Tropenmedizin zuwuchsen.
Rassistische und eugenische Ansätze wurden in den 20er Jahren zum common sense. Ab 1925 unterstützte die DFG die „vergleichende Völkerpathologie“ und förderte „sozialhygienische“ und „kriminalbiologische“ Untersuchungen über Alkoholsüchtige, Geisteskranke, Kriminelle und ethnische Minderheiten. Das störte höchstens medizinische Laien. 1930 erklärte der Vorwärts, die sozialdemokratische Parteizeitung, es sei ein Skandal, dass die DFG eine antisemitische Publikation für förderungswürdig hielt und Steuergelder für solche „Schundliteratur“ ausgab.

Halbgötter in braun

Die Nazis an der Macht eröffneten den deutschen Biologen und Medizinern dann neue Möglichkeiten und große Karrierechancen. Die Forschung wurde eugenisch ausgerichtet und „Rasse“ zum Paradigma, an dem die Wissenschaftler ihre Fragestellungen ausrichteten. Auf einer Veranstaltung der DGG im März 1939 behauptete Eugen Fischer, der Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschlicher Erblehre und Eugenik, es sei durch die Zwillingsforschung gelungen, „die Erblichkeit fast aller erblichen Krankheiten einwandfrei“ festzulegen. Damit gäbe es „eine vollkommen sichere Grundlage für alle etwaigen bevölkerungspolitischen Maßregeln“.
Fischers Rede ist typisch für das Selbstverständnis vieler Mediziner, die einerseits dem Staat zuarbeiten, andererseits die „Forschungskonjunktur“ der Erbbiologie für die eigenen Interessen nutzen wollten. Wie der Leiter der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA), Ernst Rüdin, der einen Antrag auf finanzielle Unterstützung bei der DFG so begründete: „Volk, Partei und Regierung haben Anspruch darauf, dass die Forschung, welche die wissenschaftlichen Grundlagen zur rassehygienischen Tat zu schaffen geeignet ist, nicht zum Stocken gebracht wird.“
Umstritten blieb die praktische Umsetzung. Wie radikal sollte „Auslese“ / „Ausmerze“ betrieben werden? Der Hygieniker Felix von Bormann beispielsweise wandte sich gegen die Diphtherie-Impfung der Bevölkerung, weil sie die natürliche Auslese behindere. Seine Position blieb – schon aus Erwägungen der Nützlichkeit – marginal. Teilweise kam es zu einer krassen Ideologisierung der Naturwissenschaft: So lebte die sogenannte „Blutgruppenforschung“, eigentlich Ende der 20er Jahre diskreditiert, wieder auf, denn die „Rassenzugehörigkeit“ sollte durch die Blutgruppendiagnose objektiv bestimmbar gemacht werden. Mediziner verglichen in der Folge „Weißenserum“ und „Negerserum“. Obwohl offensichtlich Humbug hatte die Arbeit der Serologen schreckliche Konsequenzen. Das RKI lieferte dem RGA Gutachten über die familiären Herkunft und ermöglichte so die Erfassung, Deportation und Vernichtung von Juden, Sinti und Roma.
Unfassbar bleibt, wie unbehelligt die Theoretiker und Praktiker der eugenischen Verbrechen nach Kriegsende blieben. Leider bringen die beide Veröffentlichungen kaum Material darüber, welche institutionellen Verbindungen in der Bundesrepublik weiterbestanden. Abgesehen aber von der teilweise altertümelnd-albernen Rhetorik wirkt die Forschungslandschaft im Nationalsozialismus erschreckend vertraut. Da gibt es den peer review, es gibt Intrigen und Seilschaften und eine staatlich gelenkte „wissenschaftliche Selbstverwaltung“. Und Biopolitik betreiben nicht nur die Politiker, sondern auch die Experten.

Annette Hinz-Wessels: Das Robert Koch-Institut im Nationalsozialismus. Berlin: Kulturverlag Kadmos.

Anne Cottebrune: Der planbare Mensch. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die menschliche Vererbungswissenschaft, 1920-1970. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.

 

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