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"Treibgut der Revolutionsgeschichte"
(Junge Welt. 21. 10. 2008)

Als der ehemalige Matrose Hermann Knüfken seine Erinnerungen aufzuschreiben begann, hielt sich nicht mit seiner Kindheit auf: „Kiel 1917 / 1918. – Da saß ich nun in der alten Marine-Arrestanstalt.“ Wegen einer erstaunlich langen Liste von Vergehen angeklagt sitzt er im Gefängnis und wird aller Wahrscheinlichkeit nach zum Tode verurteilt und erschossen werden – sofern ihn nicht der Aufstand gegen Hunger und Krieg vorher befreit. „Die immer wiederkehrende Musik, die ich so oft und fast regelmäßig in meiner Zelle hörte, war das >Jesus, meine Zuversicht< der Divisionskappelle an der Spitze des Leichenzuges“, notiert Knüfken. Auf der einen Seite neben dem Gefängnis befindet sich nämlich ein Lazarett, auf der anderen werden die Kriegsfreiwilligen gedrillt: Knüfken sitzt genau in der Mitte zwischen Anfang und Ende gewöhnlicher militärischer Karrieren.
„Von Kiel bis Leningrad“ beschreibt einen Lebensweg, der üblicherweise „abenteuerlich“ genannt wird. Ihn hier nachzuerzählen, würde den Rahmen sprengen. Um nur einige Episoden zu nennen: entschiedener Kriegsgegner in der deutschen Marine, Deserteur, an den meisten Aufständen zwischen 1918 und 1923 beteiligt, Mitglied erst der KPD und ab 1920 der Kommunistischen Arbeiterpartei (KAPD), entführt zusammen mit Franz Jung ein Schiff in die Sowjetunion, Insasse in kaiserlichen, Weimarer und schließlich stalinistischen Gefängnissen, Gewerkschaftsfunktionär, Agitator und Spion, Mitarbeiter der Komintern und des britischen Auswärtigen Amts...
Mit dem Blick zurück aufs eigene Leben, mit dem die bürgerliche Subjektivität reflektiert, wie sie geworden, haben diese Memoiren nichts zu tun. Die Herausgeber vermuten, dass Knüfken im schwedischen Exil begann, seine Erlebnisse und Begegnungen aufzuschreiben, gewohnt, in diversen Polizeiverhören Auskunft zu geben. Seine Erinnerungen sind nun sorgfältig editiert als Buch erschienen, mit zahlreichen Dokumenten und Berichten von Genossen und Verwandten ergänzt. Sie eröffnen eine ungewöhnliche und faszinierende Perspektive auf die Zeit des „Weltbürgerkriegs“.
Ungewöhnlich sind sie auch, weil Hermann Knüfken Teil einer Strömung war, die in der deutschen Arbeiterbewegung immer in der Minderheit war: antibürokratisch bis antistaatlich, aktivistisch und radikal egalitär. „In unseren Wäschespinden“, schreibt er über seine Zeit als Matrose, „fanden sich von Kropotkin bis Marx, von Bakunin bis Bebel, von Bernstein bis Liebknecht Literatur, die bekanntlich vor der Meuterei 1917 nicht verboten war. Bei der Nennung dieser Namen habe ich absichtlich Anarchisten und Sozialdemokraten zusammengemischt, um zu zeigen, dass wir keine Parteifanatiker waren (...) Alle, die an der Niederlage arbeiteten, waren und gleich lieb und willkommen.“ An anderer Stelle erklärt er bündig, „Das Deutschtum der Sozialdemokraten war uns zum Kotzen!“, und bekennt freimütig, natürlich hätten die Deserteure mit feindlichen Nachrichtendiensten zusammengearbeitet: „So oder so waren sie Vertreter von Mächten, die sich mit Deutschland im Krieg befanden. Unser Ziel war ein gemeinsames: die militärische Niederlage der deutschen Kriegsmacht. Man konnte zusammenarbeiten.“
Knüfken und Genossen waren nicht nur alle nationalen Regungen fremd, als Avantgarde – hier stimmt das Wort einmal – hatten sie auch keine Hemmungen, den Klassengenossen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Im Programm der KAPD – die sich 1920 von der KPD unter anderem wegen der Gewerkschaftsfrage abspaltete und der Knüfken angehörte – heißt es: „Die Psychologie des deutschen Proletariats trägt nur allzu deutlich die Spuren der jahrhundertelangen militaristischen Versklavung, daneben aber auch die Merkmale eines mangelnden Selbstbewusstseins.“ Das sei das Ergebnis des Bürokratismus der Gewerkschaften und des Parlamentarismus der Parteien, so die Arbeiterkommunisten. „Das Problem der deutschen Revolution ist das Problem der Selbstbewußtseinsentwicklung des deutschen Proletariats.“
Wenigstens Knüfken mangelte es nicht als Selbstbewusstsein. Muss sein Leben nur Historiker interessieren? Bestimmt nicht. „Ohne vollkommene Demokratie in der Kommunistischen Partei, Aufbau von unten, freie Diskussion und Mitbestimmungsrecht der unteren Parteieinheiten usw. kein wirklich sozialistischer Staat“, schreibt er in seinen Erinnerungen. Diese Haltung brachte ihn, der in den 20er wieder KPD-Mitglied wurde, immer wieder in Konflikt mit der Parteilinie und führte schließlich zum völligen Bruch.
In seinem Nachwort nennt Dieter Nelles die Aufzeichnungen „eine bedeutende Quelle für die historische Forschung und zwar in drei Bereichen: die revolutionäre Matrosenbewegung im Ersten Weltkrieg, die rätekommunistische Bewegung und die Bedeutung der Schifffahrt für die Komintern.“ Aber das Buch beleuchtet auch die antifaschistische Strategie der KPD. Im August 1933 machte die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF), in der Knüfken zum damaligen Zeitpunkt eine wichtige Rolle spielte, in einem illegalen Flugblatt unter der Überschrift „Sozialistische Erneuerung gegen den Faschismus“ die opportunistische Politik beider Arbeiterparteien für die „furchtbare Niederlage“ verantwortlich. Und im Programmentwurf der Antwerpener Gewerkschaftssektion heißt es, der „entscheidende Teil der Arbeiterschaft“ – sprich ihr aktivistischer Teil – sei bereit gewesen, „den ganzen Nazispuk durch den Generalstreik zu erledigen“.
Ob das wirklich realistisch war oder der speziellen Erfahrung der November-Revolutionäre geschuldet, die 1918 erlebt hatten, wie verwundbar die bürgerliche Ordnung in der Krise ist? Die Seeleute kritisierten jedenfalls, die Führer, „>blassrote< und >purpurrote< der Generalstäbe des deutschen Proletariats“, hätten den Kampf gar nicht gewollt. Die Art, wie die KPD-Führung nun den Widerstand organisieren wolle, sei falsch, statt formeller und hierarchischer Strukturen müsse man ein Netz von antifaschistischen Vertrauensleuten in den Häfen und unter den Schiffsbesatzungen aufbauen. „Die Führung der KPD war nicht bereit, die Vorstellungen der Aktivgruppe zu akzeptieren“, schreibt Nelles lapidar. Auf eigene Faust halfen Knüfken und andere in der ITF Flüchtlingen ins Ausland und organisierte Sabotageaktionen. Knüfken versorgte unterdessen westliche Geheimdienste mit Informationen.
1944 ging er ins Exil nach Großbritannien. Dort wurde er vom Auswärtigen Amt eingestellt und nach dem Krieg im Londoner Hafen nachrichtendienstlich eingesetzt. Er führte ein häusliches Familienleben, politisch engagierte er sich nicht mehr. „Aber als er sich ganz zurückgezogen hatte, wurde er zu meiner Überraschung Mitglied der Konservativen Partei“, berichtete seine Frau Sonja später. Durchaus möglich, sogar ziemlich wahrscheinlich, dass Knüfken irgendwann seine Arbeit für den britischen Geheimdienst weniger als politische Notwendigkeit denn als Erwerbsquelle ansah. Er starb 1976 in Brighton. „Von Kiel nach Leningrad“ portraitiert einen Menschen, wie es nicht viele gibt.

Herrmann Knüfken (2008) Von Kiel bis Leningrad: Erinnerungen eines revolutionären Matrosen 1917-1930. Berlin: BasisDruck.

 

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