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Umstrittene Reform

(Frankfurter Rundschau, 3. 1. 2006)

Die britische Labour–Regierung plant eine radikale Umgestaltung der weiterführen Schulen.

„Unser Ziel ist, dass freie Wahl eben nicht nur den Reichen zugute kommt.“ So beschrieb Premierminister Tony Blair auf dem Wirtschaftstag in seiner Heimatstadt Sedgefield die Ziele seiner geplanten Schulreform. Ganz anders sieht es Pat Murphy, Sekretär der National Union of Teachers (NUT) in Leeds, der größten Lehrergewerkschaft des Landes: „Tony Blair gibt endlich ausdrücklich zu, dass er in Wirklichkeit ein Konservativer ist!“ Und Steve Sinnott, der Vorsitzende der NUT, meint gar: „Diese Pläne werden die ethnische und soziale Spaltungen in unserem Land noch weiter verschärfen.“
Seit am 26. Oktober eine Gesetzesvorlage der Regierung mit dem Titel „Höhere Standards und bessere Schulen für alle!“ veröffentlicht wurde, debattieren die Briten erregt über die anstehende Umgestaltung der weiterführenden Schulen ab der 6. Klasse. Kein Wunder: sollte das Gesetz in dieser Form umgesetzt werden, handelte es sich um den tiefsten Eingriff in das Schulsystem seit dem Jahr 1944, der Einführung der kostenlosen Schulbildung.
Wie im Gesundheitssystem und anderen Bereichen setzt Blair auch bei den Schulen ganz auf die Einführung von Marktstrukturen und die Öffnung der öffentlichen Dienste für private Unternehmen. Künftig sollen „Treuhandgesellschaften“ die Schulen weitgehend unabhängig von den örtlichen Kommunen verwalten. „Geschäftsleute, Elternorganisationen und Glaubensgemeinschaften“ könnten dann über die Verwaltung, Finanzierung, Personaleinstellungen und teilweise sogar die Lerninhalte bestimmen. „Erfolgreiche Gesellschaften werden ermuntert werden, zu expandieren“, heißt es in dem Weißbuch. Auch Privatschulen soll es möglich werden, ehemals staatliche Schulen zu übernehmen. Für deren Unterhalt wird dann allerdings weiterhin der Staat mit Steuergeldern aufkommen. Kritiker warnen deshalb, dass bald Privatfirmen Dienstleistungen im Bildungsbereich übernehmen werden. Sollten Firmen wie Global Education Management Systems (GEMS), die weltweit 50 Schulen betreibt, aber eine Schule übernehmen, wird sie es nur dort tun, wo Profite möglich sind. Für den rein staatlichen Sektor bliebe übrig, was für privates Kapital nicht attraktiv ist, beispielsweise Schulen in sozialen Brennpunkten.
Auch deshalb treibt das Vorhaben den linken Flügel der Labour Party auf die Barrikaden. Vor zwei Wochen veröffentlichte eine Gruppe Labour–Abgeordneter, darunter auch die ehemalige Bildungsministerin Estelle Morris, einen Gegenentwurf. Auch die Lehrergewerkschaften und Elternverbände lehnen die Pläne ab. Blair dagegen versucht, die Gemüter zu beruhigen: „Es wird einen Markt geben“, sagte er in seiner Rede in Sedgefield, „aber nur im Sinne von Wahlmöglichkeiten – keinen Markt, in dem die Kaufkräftigen bestimmen“.
Besonders umstritten ist, dass laut den Plänen des Department for Education and Skills der Einfluss der lokalen Schulbehörden zurückgeschraubt werden soll. „Sie werden weniger mit dem alltäglichen Betrieb der Schulen beschäftigt sein, sondern nur noch die Qualität des Unterrichts überwachen“, heißt es aus dem Bildungsministerium. Ein wesentliches Element des bisherigen Schulsystems würde so abgeschafft: die Pflicht der Kommunen, für jedes Kind einen Schulplatz anzubieten. Die trust schools sollen auch bei der Auswahl ihrer Schüler unabhängig sein. Das muß britische Eltern interessieren, die sich keine teure Privatschule leisten können, aber genau wissen, dass die Schulbildung über den weiteren beruflichen Werdegang ihrer Kinder entscheidet, Deshalb ist Bildung immer noch eines der zentralen Themen der britischen Gesellschaft. Viele Briten fürchten, dass Einkommensschwache auf der Strecke bleiben werden, wenn die örtlichen Schulbehörden nicht mehr die Vergabe der Plätze kontrollieren. „Diese Schulen werden sich um jene Kinder reißen, die bisher gute Noten hatten und pflegeleicht sind, während die aus armen Familien gar keine Plätze bekommen“, warnt Sinnott. „Treuhandschulen“ würden voraussichtlich Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten diskriminieren.
Weniger öffentliche Beachtung findet die autoritäre Seite des Gesetzes. Der Entwurf sieht vor, dass Schuldirektoren massive Strafen über Schulschwänzer verhängen können. Schulen sollen sogar sogenannte Parenting Contracts bei der Polizei beantragen können, mit denen Eltern verpflichtet werden, ihre vom Unterricht ausgeschlossene Kinder zu Hause zu beaufsichtigen. Werden diese dennoch „während der Schulzeit unbeaufsichtigt entdeckt“, drohen den Eltern Geldstrafen.
Trotz wachsendem Druck versucht die Regierung, ihr Gesetz zu retten. Bildungsministerin Ruth Kelly: „Wir werden den Schulen mehr Freiheiten geben, und andererseits die Wahlmöglichkeiten für Eltern ausweiten – das ist im Interesse aller.“ Aber Kritiker sehen das anders – einschließlich einer starken Fraktion in Blairs eigener Partei. Sogar sein Stellvertreter John Prescott äußerte sich kritisch über die Pläne. 72 Abgeordnete Labours haben bereits angekündigt, gegen den Entwurf in seiner jetzigen Form zu stimmen. Dann wäre Tony Blair auf konservative Stimmen angewiesen, um eine Abstimmungsniederlage zu vermeiden. Schon signalisiert Number 10 Kompromißbereitschaft. Das Parlament wird im nächsten Jahr über das Gesetz beraten.

Das britische Schulsystem... Seit den 70er Jahren haben verschiedene Reformen zu einer Vielfalt von Organisationsformen von weiterführenden Schulen geführt. Etwa 10 Prozent aller Schüler besuchen Privatschulen, für deren Eltern teilweise enorme Summen zahlten. Die überwiegende Mehrheit der Kinder und Jugendlichen aber wird nach der 6. Klasse in ganztägigen Gesamtschulen unterrichtet, die von den örtlichen Schulbehörden, den Local Education Authorities (LEA) verwaltet werden. Sie unterschieden sich im Grad ihrer Unabhängigkeit: die Leitung von Foundation Schools (seit 1988) entscheidet selbst über Personalpolitik und Finanzen. So genannte City Academies (seit 2000) dürfen außerdem bis zu 10 Prozent ihrer Schüler nach Leistung auswählen. 27 solche Schulen gibt es bereits, typischerweise in sozialen Brennpunkten. Mit dem umstrittenen Programm versucht New Labour, „scheiternde Schulen“ zu verbessern.
1992 wurde das Office for Standards in Education (OFSTED) gegründet. Es kontrolliert jährlich die Leistungen der Schulen und veröffentlicht seine Ergebnisse in der Form von Ranglisten, inklusive Angaben über versäumte Unterrichtsstunden wegen Schulschwänzens und Krankheit.