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Jugendliche  in Barking
Fotos von Christoph Bias

 

"Die Eingesessenen zuerst"

In Arbeitervierteln wie Barking and Dagenham in London profitiert die rechtsextreme British National Party von der tiefen Krise der Sozialdemokraten.

"Ich weiß nicht, was sie sich gedacht", sagt Stadtrat Milton McKenzie, und es klingt gleichzeitig hilflos und wütend. McKenzie ist ein großer schwarzer Mann mit weißem Bart und einer dröhnenden Stimme, der anzumerken ist, dass er gelegentlich in einer Baptistengemeinde predigt. Seit fast 40 Jahren ist er aktiv in der Labour Party und nach eigenem Bekunden "zweifelsohne Sozialist". "Diese Bemerkung hat uns sehr geschadet. Sehr." Er meint einen Satz seiner Parteigenossin Margaret Hodge, der Abgeordneten für den Londoner Bezirk Barking and Dagenham. Mitten im Wahlkampf hatte die ehemalige Arbeitsministerin in einem Interview gesagt: "Acht von zehn Leuten in meinem Wahlkreis sind diesmal in Versuchung, die British National Party zu wählen!"
Seitdem spekuliert nicht nur Milton McKenzie über ihr Kalkül. Die Kommunalwahlen im Mai haben Labour einen schweren Schlag versetzt, das war erwartet worden. Aber nirgendwo war das Ergebnis so katastrophal wie im proletarischen Nordosten der britischen Hauptstadt. Zwar haben dort nicht 80, sondern nur 17 Prozent für die rechtsextreme BNP gestimmt, aber das reichte, um in Barking and Dagenham zweitstärkste Fraktion zu werden.
Ihre Wurzeln hat die BNP in der englischen rechtsextremen Szene der 80er Jahre. Seit Nick Griffin im Jahr 1999 den Parteivorsitzenden übernahm, versucht der hartnäckige Holocaustleugner und ehemalige Aktivist der National Front seiner Partei ein respektables Image zu geben. Er und seine Entourage spielen seitdem die anrüchigen ideologischen und personellen Verbindungen zu militanten Neonazis herunter. Vor zwei Jahren wollte Griffin sogar Nicht-Weiße als Parteimitglieder zulassen – für die meisten Aktivisten eine Provokation! Schließlich musste der Vorsitzende sein Vorhaben aufgeben, als die Gefahr eines innerparteilichen Putsches gegen ihn zu groß wurde. Aber der Widerstand des harten faschistischen Kerns wird schwächer, denn seine Taktik, die BNP nach dem Vorbild von Jean-Marie LePen zur populistischen Massenpartei umzugestalten, ist erfolgreich. Eine Meinungsumfrage ermittelte kürzlich, dass sie landesweit mit sieben Prozent der Wählerstimmen rechnen könnte.
Britische Anti-Nazi-Organisationen wie Searchlight müssen feststellen, dass der Faschismusvorwurf kaum noch Erfolg hat. Geschickt profiliert sie sich als Sprachrohr der weißen Bevölkerung gegen die etablierten Parteien. Während sie den Vorwurf des Rassismus schulterzuckend oder augenzwinkernd akzeptiert, bestreitet sie vehement, eine anti-demokratische Partei zu sein. Während des ansonsten reichlich eintönigen Wahlkampfs schenkten die Medien ihren Erfolgsaussichten viel Aufmerksamkeit, porträtierten sie aber meist unkritisch als Protestpartei, ohne auf ihre Positionen einzugehen. Antifaschisten versuchten, das Schlimmste mit einer Wahlkampagne zu verhindern, mit der die Migranten im Viertel zum Wählen aufgefordert wurden. Zwar stieg die Wahlbeteiligung dadurch auf 38 Prozent (2002 waren es nur 23 Prozent!), der rechtsextreme Erfolg konnte aber nur abgemildert werden. Zwölf Stadträte stellt die Partei nun in dem Wahlkreis mit 155.000 Einwohnern. Searchlight-Direktor Nick Lowles: "Wir haben noch Glück gehabt, dass sie nur 12 Kandidaten zusammenbekommen haben, sonst wären es noch mehr geworden." Lowles macht Sorgen, dass sich die BNP zunehmend professionalisiert. Ungeschicktes Auftreten hatte in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass ihre Vertreter regelmäßig bei den nächsten Wahlen wieder ihr Amt verloren. Das könnte sich nun ändern.
Richard Barnbrook, Fraktionsführer der Nationalisten, gehört zu den Modernisierern um Parteichef Griffin. In der Wahlnacht hat er sich halb artig, halb ironisch bei Margaret Hodge "für ihre Unterstützung" bedankt. Das Interview findet in einer Kneipe gleich neben dem Rathaus statt, darauf hat er bestanden. Auf die Forderung seiner Partei angesprochen, Ausländer aus Großbritannien auszuweisen versucht er, abzumildern. Nur wer freiwillig gehen wolle, bekäme Unterstützung, wer sich anständig verhalte und schon lange hier sei, dürfe gerne bleiben. Und überhaupt: "Ich repräsentiere alle in meinem Wahlkreis, ob schwarz oder weiß!" Der hochgewachsene ehemaliger Kunstlehrer war in den 80er Jahren selbst Labour-Mitglied, heute schimpft er über deren „Verrat an der weiße Arbeiterklasse“. "Als sie multikulturell wurden, war dort kein Platz mehr für mich." Aber bald seien die Patrioten nicht nur hier die zweitstärkste Partei, sondern im ganzen Land, Barking ein Stützpunkt in der Hauptstadt. Das eigentliche Ziel sind die Europawahlen in Großbritannien nächstes Jahr. Schnell sind die vorsichtigen Töne vom Gesprächsbeginn vergessen, und er beginnt, ein klassisch faschistisch Programm, samt Autarkie und Rassenpolitik, zu entwickeln. Bei reichlich Schwarzbier und Mentholzigaretten gerät er ins Schwadronieren und findet nicht mehr heraus, verstrickt sich in Verschwörungstheorien – ein Demagoge, sicher, aber eben doch einer mit Sprachfehler. Fast könnte man sich darüber beruhigen, kämen nicht kurz darauf zwei Frauen an den Tisch, an dem er seine Rede hält. „Sind sie der von der BNP?“, erkundigen sie sich. Sie haben ein Problem mit den Schwarzen an ihrer Arbeitsstelle, ob der Stadtrat da nichts machen könne? Barnbrook mag lächerlich wirken, seine Politik ist bei vielen hier populär.

Sicher ist Richard Barnbrook ein Demagoge - aber eben einer mit Sprachfehler.

Seit Mai haben sich die Beziehungen zwischen Einwanderern und Eingesessenen vor Ort verschlechtert. Immer häufiger kommt es zu gewalttätigen Übergriffen. „Ich habe Freunde, die weggezogen sind, weil es für sie letztlich zu gefährlich wurde“, erzählt Ahmed, ein britischer Staatsbürger, der in Barking wohnt und dessen Eltern aus Pakistan kamen. Und Thomas Musau, ein mittlerweile anerkannter Asylbewerber aus Somalia, berichtet von anderen Methoden der Einschüchterung: "An manchen Wohnungen tauchen Schilder auf, auf denen steht: >Zu vermieten! Nicht für Scheiß-Ausländer!<" Weiße Engländer wie die 22jährige Sarah dagegen glauben, mit der BNP würde endlich jemand ihre Interessen vertreten. "Es sollte mehr für uns getan werden, für die Engländer hier, nicht für die Somalis. Wir sollten als erste finanzielle Unterstützung und Kindergartenplätze und Wohnungen bekommen." Natürlich sei sie nicht mit allem einverstanden, was die Nationalisten vertreten, aber irgendwer müsse ja für die Engländer eintreten. Seit kurzem hat sie eine kleine Tochter, trotzdem wohnt sie immer noch in dem kleinen Reihenhaus ihrer Eltern, weil sie und ihre Freund keine günstige Wohnung finden. Schon seit vier Jahren steht Sarah auf der Warteliste für eine Sozialwohnung. Aber weil sie nicht akut von Obdachlosigkeit bedroht sei, so die Behörden, kann das dauern. „Vielleicht passiert jetzt endlich was!“, meint sie und deutet auf die Tochter, die sie im Arm trägt, „jetzt wo ich ein Kind habe.“
Barking Dass man in London vier Jahre oder noch länger auf eine Sozialwohnung warten muss, liegt keineswegs daran, dass die Behörden Fremde bevorzugen würden. Es gibt schlicht immer weniger davon. Noch 1986 waren in Großbritannien 5,6 Millionen Wohnungen im öffentlichen Besitz. 2004 waren es nur noch 2,8 Millionen – das Ergebnis der Privatisierungspolitik, die Premierministerin Margaret Thatcher begann und die Tony Blair fortsetzt. Viele Briten waren zunächst durchaus begeistert von dem Programm der Konservativen für eine property owning – democracy: Wer seine Sozialwohnung kaufen will, kann einen Nachlass bis zu 36.000 Pfund bekommen. Das right to buy ist nach wie vor populär, aber der Bedarf nach Sozialwohnungen hat nicht nachgelassen. Diejenigen, die sich keine Eigentumswohnung leisten können, müssen entweder teuer privat mieten oder um die verbliebenen Sozialwohnungen konkurrieren, die von den Kommunalverwaltungen nach „Bedürftigkeit“ vergeben werden, gemäß einem kompliziertes System der Mangelverwaltung.
Die britische Hauptstadt ist eine der teuersten Städte der Welt, und der Mangel an günstigen Wohnungen ein drückendes Problem. Polemisch benutze die BNP die Wohnungsnot in ihrem Wahlkampf und behauptete auf Flugblättern, Schwarze aus anderen Stadtviertel bekämen Zuschüsse, um sich vor Ort Wohnungen zu kaufen. Mit einem Regierungsprogramm namens „Afrikaner für Essex“ könnten Farbige bis zu 50.000 Pfund (etwa 74.300 Euro) erhalten. „Gossenpolitik“ nennt das Stadtrat Milton McKenzie. „Die BNP hat den Leuten erzählt, was sie hören wollten.“ Trotz zahlreicher Dementis zirkulieren ähnliche Gerüchte schon lange unter der englisch-weißen Bevölkerung. Nahrung gibt ihnen der stetige Zuzug von Migranten der zweiten Generation aus dem Zentrum auf der Suche nach billigem Wohnraum. Noch vor wenigen Jahren gab es hier keine Farbigen, mittlerweile stellen sie einen großen Teil der Bevölkerung. Das hat wirtschaftliche Gründe: Immobilienbesitz ist in England eine beliebte Geldanlage oder Altersvorsorge. Einen Fuß auf der sogenannten property ladder wollen fast alle – auch die Migranten aus Asien und der Karibik, die den Aufstieg in die (untere) Mittelschicht geschafft haben. Ihre Mittel reichen allerdings meist nur für eine Eigentumswohnung in einem Wohnblock – und die billigsten davon gibt es hier.

Barking

Seit 1918 das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, hat die Labour Party in dem tristen Stadtviertel mit den eintönigen Häuserreihen aus roten Backsteinen regiert. In den 70er und 80er Jahren war hier eine Hochburg der trotzkistischen Parteiströmung. In Dagenham stand die größte Autofabrik Englands mit 34.000 Arbeitsplätzen. Als Ford die Produktion 2002 einstellen ließ, waren es noch 4.000. Heute sind viele der Fabrikarbeiter von damals arbeitslos. Außer den Sozialdemokraten gab es hier bislang keine politische Kraft – die Konservativen haben im Stadtrat genau einen Vertreter. Aber nun profitiert die BNP von dem verbreiteten Gefühl, von Labour verraten worden zu sein. Die scheinbar sichere Basis beginnt zu bröckeln. Erst vor diesem Hintergrund entfaltet Margaret Hodges Bemerkungen ihre ganze Brisanz: eine Vertraute des Premierminister, dessen neoliberale Politik die Unterstützung für Labour immer weiter untergräbt, bekundet Verständnis, wenn ehemals sozialdemokratische Wähler für eine rechtsextreme Partei stimmen.
„Die weißen Familien in Ost-London finden keine Wohnung für ihre Kinder, aber sie sehen Schwarze und andere ethnische Minderheiten einziehen, und sie werden wütend!“ sagte sie. Für Stadtrat Milton McKenzie ist das eine Verharmlosung. „Zitieren sie mich ruhig: sie sollte in Zukunft besser schweigen.“ Seit den Wahlen kämpfen er und seine Genossen im Stadtrat um eine einheitliche Haltung. Schwer fällt ihnen weniger der Umgang mit den Rechtsextremen selbst als mit deren Wählern. Wohlmeinend plante die Verwaltung im September ein "Afrikanisches Volksfest" in der Fußgängerzone, mit Musik, Tanz und kulinarischen Spezialitäten – aber fast niemand kam zu der multikulturellen Feier. Andererseits fürchten viele, der BNP weitere Munition für ihre Propaganda zu liefern. Bereits vor den Kommunalwahlen war ein "Tag des Flüchtlings" geplant. Nun will keiner der Stadträte mehr mit der Veranstaltung etwas zu tun haben, um nicht als "Asylantenfreund“" zu erscheinen.
Während es den Rechten gelingt, aus den Spannungen vor Ort politisches Kapital zu schlagen, fühlen sich Sozialdemokraten wie er von der Regierung im Stich gelassen. "Wir müssen uns darauf besinnen, wer unsere Wähler sind. Wir müssen verlorenes Vertrauen wiedergewinnen." Das Projekt New Labour bestand darin, die Regierungspolitik an den Interessen der Mittelschicht auszurichten und gleichzeitig darauf zu vertrauen, dass die Stammwähler treu bleiben. In Barking and Dagenham können die Ergebnisse dieser Strategie besichtigt werden.