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Noch mehr Rentenlügen

(Erschienen in der Konkret März 2006)

Obwohl die SPD nicht mehr den Kanzler, sondern nur noch den Vize stellen darf, muß niemand auf die bewährte Hausmeisterrhetorik verzichten, die Schröder so gut drauf hatte und die heute Franz Müntefering verbreitet. "Da muß man kein Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Wir müssen irgend etwas machen!" So begründete der Arbeitsminister Anfang Februar seinen Vorstoß in der Rentenpolitik. Denn, das sieht auch der sauerländische Hauptschüler ein, verteilt werden kann nur, was eingenommen wird, und wenn die Rentenkassen leer sind (etwa weil infolge der Ersetzung regulärer Arbeitsplätze durch Minijobs weniger Geld in die Kassen kommt), müssen die Alten sich eben entweder einschränken oder länger arbeiten.
Indem die Regierung jetzt beschließt, das Renteneintrittsalter ab 2012 stufenweise von 65 auf 67 Jahre anzuheben, fördert sie beides. Zwar ergehen sich Sozialdemokraten wie Konservative gleichermaßen in wohlmeinenden Phrasen, man dürfe die "älteren Arbeitnehmer nicht einfach zum alten Eisen werfen", in Wirklichkeit geht es darum, das Rentenniveau zu senken. Daß entgegen aller Rhetorik genau das beabsichtigt ist, gab Müntefering dann auch beilaufig in einem Zeitungsinterview zu, als er sagte, schließlich werde niemand gezwungen, tatsächlich bis 67 zu arbeiten – nur müsse man sich dann eben mit Abschlägen von 0,3 Prozent pro Monat zufriedengeben. Kosmetische Maßnahmen wie die Kampagne "Initiative 50+", durch die "die Chancen älterer Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt" verbessern werden sollen beeindrucken höchstens Gewerkschaftsvorstände.
Daß es einen Zusammenbruch des Rentensystems abzuwenden gelte, glauben heute so viele in Deutschland, daß Merkel und Müntefering von mathemathischer Folgerichtigkeit reden können, ohne ausgelacht zu werden – und daß, obwohl die erwartbare Produktivitätssteigerung das tendenzielle Altern der Bevölkerung mehr als ausgleichen wird. Von allen Schlagworten, die von den Vorfeldorganisationen der Arbeitgeberverbände wie der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" unters Volk gebracht werden, hat keines sich als so erfolgreich erwiesen wie die Phrase von der "Generationengerechtigkeit". Die Ansicht, die Zeitgenossen lebten auf Kosten der nachfolgenden Generationen, hat sich weit über das wirtschaftsliberale Milieu hinaus durchgesetzt. Deshalb herrscht in Deutschland Grabesruhe, während der Angriff auf die Renten die Arbeiter beispielsweise in Großbritannien oder Frankreich zu Streiks und Demonstrationen treibt.
Schon lange arbeitet die deutsche Regierung daran, die umlagenfinanzierte Rente auf eine bloße Grundsicherung zu reduzieren. Die Finanzkrise des Systems ist sowohl das Ergebnis der Massenarbeitslosigkeit als auch des Abbaus von sozialversicherungspflichtigen Stellen, wozu beide Regierungsparteien fleißig beigetragen haben.
In Deutschland liegt das tatsächliche Renteneintrittsalter bei durchschnittlich 60 Jahren, woran sich in den letzten 50 Jahren nichts geändert hat. Nur knapp 40 Prozent aller Menschen zwischen 55 und 64 arbeiten heute noch; das gesetzliche Renteneintrittsalter ist also eine fiktive Größe, die allerdings sehr wohl die Höhe der Bezüge beeinflußt. Daß nun die Lebensarbeitszeit ausgedehnt werden soll, ist angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt makaber, aber folgerichtig: Kein Arbeitgeber muß fürchten, die Löhne könnten aufgrund der demographischen Entwicklung steigen. Das "Deutsche Institut für Altersvorsorge" schätzte vor kurzem, daß in den kommenden drei Jahren rund 560.000 ältere Arbeitskräfte zusätzlich auf den Arbeitsmarkt drängen werden, ohne daß für sie Stellen vorhanden sein werden. Kein Wunder – in den vergangenen Jahren war Frühverrentung das bequemste Mittel, um Personal abzubauen.
Durch die vorgezogene Anhebung des Renteneintrittsalters demonstrieren Kanzlerin und Vizekanzler Tatkraft und ihre Entschlossenheit, auch zu unpopulären Maßnahmen zu greifen. Ihre Eile hat mit der vorgeblichen Dringlichkeit von Reformen nichts zu tun, viel dagegen mit dem Machtkampf, wer in der Koalition das Sagen hat. Beim Abbau sozialer Rechte will keiner sich nachsagen lassen, er vergeude Zeit; nur konnten viele in der CDU der Versuchung nicht widerstehen, es der SPD zu überlassen, eine Politik durchzusetzen, die sie im Wahlkampf noch abgelehnt hatte und die sie weitere Sympathien kosten wird. Es ist nur konsequent, daß Müntefering schnell hinter sich bringen will, was er für unvermeidlich hält.
Auch der Konflikt innerhalb der SPD beruht nicht auf widerstreitenden sozialpolitischen Positionen, zeigt aber, wohin das System treibt: Richtung Machtkonzentration. Müntefering demonstriert mit seinem Vorstoß, daß die Regierung die Politik bestimmt, während der neue Parteivorsitzende Platzeck sie der Partei und Öffentlichkeit zu verkaufen hat. Der eignet sich dazu wie kein anderer: Er gehört keinem Flügel der Partei an, wird der Regierung keine Schwierigkeiten machen und pragmatisch vertreten, was gerade anliegt. (Im vergangenen Herbst wertete dieser sozialdemokratische Hoffnungsträger das Ergebnis der Wahlen als Beweis, "daß immer mehr Menschen die Gründe verstehen, die den Aufbruch der 'Agenda 2010' notwendig gemacht haben"!) Und die Parteibasis? Wird nicht gefragt. Es wäre naiv zu glauben, ein tiefgreifender Umbau des Sozialstaats ließe das politische System unberührt. Die Exekutive baut ihre Macht aus, so wie es in Italien oder Großbritannien geschehen ist. Das Ausbleiben einer ernsthaften Debatte um die längere Lebensarbeitszeit ist dafür ein Beleg.

 

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