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Herrschaft der Rackets
Nanni Balestrini zeigt literarisch, wie die Mafia funktioniert – und eine Gesellschaft zerstört.

"hier ist eine kleine Brücke die zum nächsten Ort führt und auf der Brücke steht das Schild mit der Aufschrift >Willkommen in< aber der Ortsname ist nicht mehr zu lesen wegen der vielen Einschusslöcher". So beginnt ein junger Italiener von seiner Heimat und der Camorra zu erzählen. Dort, wo er herkommt, ist beides untrennbar verbunden. Wer um die Stadt Neapel, im verarmten Süden des Landes, aufwächst, lernt das organisierte Verbrechen von klein auf kennen. Die erste Leiche sieht der Junge auf seinem Schulweg, und es ist nicht die letzte. Obwohl sein Vater alles tut, um ihn von der Camorra fernzuhalten, ist der Kontakt und schließlich die Konfrontation unvermeidbar. Als dann in den 90ern zwei Clans einen regelrechten Krieg um die Vorherrschaft führen, ergreift der junge Mann die Flucht. Aber seine Heimat lässt ihn nicht in Ruhe.
Der italienische Dichter und Romanautor Nanni Balestrini ("Wir wollen alles", "Die Unsichtbaren") zeigt sich in seinem neuen Buch von seiner besten Seite: einfühlsam, spannend, genau in der Beschreibung. Wieder schreibt er ohne Satzzeichen, seine Texte nähern sich der gehörten Sprache an und haben etwas besonders Eindrückliches. Mit der Mafia hat er sich schon früher einmal beschäftigt: In den 70er Jahren half er als Herausgeber, die Akten der parlamentarischen Antimafiakommission zu veröffentlichen. In Italien ist "Sandokan" schon vor zwei Jahren erschienen, lange bevor im letzten Herbst die Situation in Neapel eskalierte. Nun ist es, sorgfältig übersetzt, auf deutsch erschienen.
Die Gegend um Neapel, aus der der Erzähler kommt, ist geprägt vom Gemüse- und Obstanbau, Armut, einem bigotten Katholizismus und kultureller Rückständigkeit. Auch nach der sizilianischen Landreform 1951 wird die Provinz von den großen Landbesitzern kontrolliert, die die Kleinbauern in quasi-feudaler Abhängigkeit halten. Schon immer war der Mezzogiorno, der Süden des Landes, ein Problem für italienische Wirtschaftspolitiker. Aber alle bisherigen Versuche, das Wohlstandsgefälle auszugleichen, schlugen fehl, auch wegen der scheinbar unausrottbaren politischen Klientelismus, der nahtlos ins Illegale übergeht. Was ist eigentlich "verboten" in einer Gegend, in beispielsweise Bestechung nicht als verwerflich, sondern als gute Tradition gilt, und Gewalt alltäglich? Heute ist die Camorra dort vieles gleichzeitig: ein multinationaler Konzern, der unter anderem das Baugewerbe, das Drogengeschäft und den Handel mit gefälschten Produkten und die Lokalpolitik kontrolliert, eine sozialarbeiterische Einrichtung und schließlich für viele Jugendliche die einzige Aufstiegschance.
Auch in Balestrinis Roman schlagen alle Versuche, das "Gesetz des Schweigens" zu brechen, fehl. Schließlich verlässt der junge Sizilianers, wie so viele andere, seine Heimat und geht in den Norden. Bitter, ohne Sentimentalität, erinnert er sich, beschreibt die Kriege der Clans und die Heuchelei der anständigen Bürger, die gerne von den Geschäften des Kartells profitieren, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. "wichtig ist nicht dass man diese Dinge nicht tut wichtig ist dass sie nicht durchsickern dass niemand davon erfährt auch wenn jeder eigentlich immer alles über jeden weiß stell dir so eine Gegend vor was soll dabei rauskommen da kann nicht Gandhi oder Che Guevara bei herauskommen nur Sandokan kann dabei herauskommen."
Die Lebensgeschichte des Erzählers kontrastiert Balestrini mit der dieses Paten namens "Sandokan". Von den zahllosen Mythen, die sich um ihn ranken, bleibt nach der Lektüre nichts übrig. Diese Gangster sind keine bäuerlichen "Sozialrebellen" (Eric Hobsbawm), sondern ein spätkapitalistisches Racket, wie sie Max Horkheimer beschrieben hat, eine Verbrecherbande, die in die kapitalistische Konkurrenz Gewaltbereitschaft und Skrupellosigkeit als neues Kriterium einführt und sich so zum (regionalen) Souverän aufschwingt. Ihre Herrschaft ist niemals stabil, sondern innerhalb des Rackets fortwährend blutig umkämpft, weil das System von Anhängerschaft und Privilegien ständig zerfällt und sich neu bildet. Schon darin liegt die Nähe zum Faschismus begründet. Kein Zufall, dass der Pate Sandokan in seinem Versteck am liebsten Ölbilder von Mussolini malt. Unromantisch zeigt Balestrini, wie die Clans die Solidarität unter der Landbevölkerung zerstören und Jugendlichen jede Lebensperspektive jenseits der Camorra rauben. So erklärt dieser Roman, fast beiläufig, mehr, als alle Zeitungsartikel zum Thema.

Nanni Balestrini (2006) Sandokan. Eine Camorra – Geschichte. Berlin / Hamburg: Assoziation A.

 

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