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Outsourcing der Seele, Privatisierung der Welt
Ein neuer Sammelband mit Kurzgeschichten junger britische Autorinnen

Tagelang wandert Mark am Strand herum und starrt aufs Meer. Durch einen Unfall hat er sein Gedächtnis verloren. Hinter den Wassermassen soll angeblich etwas sein, das „Dänemark“ genannt wird. Mark weiß nicht, was ein „Dänemark“ sein soll, und irgendwie ist es auch nicht so wichtig. – Linda hasst ihre Mutter, deren Lebenszweck zu sein scheint, ihr Selbstbewusstsein zu untergraben. „Vergiss nicht, das du nichts besonderes bist“, gibt sie Linda mit auf den Weg, als die mit ihrem Freund zu fliehen versucht. – Die indische Einwanderin Nargis sucht nach einer deprimierenden Affäre mit einem Geschäftsreisenden den Tod. Im kalten Klima der Insel ist sie nie heimisch geworden. – Ein Mann, der mit seiner Familie in einem Haus genau in der Einflugschneise des Flughafens Heathrow lebt, wandert verstört durch die Ankunftshalle: „Niemand scheint zu bemerken, das ich nicht ganz bei mir bin. 63 Dezibel, 16 Stunden pro Tag, das unsichtbare Gift des ausströmenden Kerosins, ich kann mich nicht denken hören.“
Diese und andere Geschichten sind in dem gerade erschienenen Band „Cool Britannia“ versammelt. A. L. Kennedy ist eine der bekanntesten britischen Gegenwartsautoren; ihr lakonischer, schonungslos realistischer Erzählstil ist für viele junge Autorinnen und Autoren zum Vorbild geworden. Nun gibt sie diese Sammlung ihrer „Lieblingskurzgeschichten“ heraus, allesamt von Schriftstellern, die noch nicht ins literarische Establishment aufgestiegen sind. Für Kennedy sind es „Momentaufnahmen des britischen Unterbewusstseins“. Manche von ihnen erscheinen hier zum ersten Mal (das heiß, in deutscher Übersetzung statt in ihrer Heimat). Viele der jungen Schriftsteller beherrschen ihr literarisches Handwerk noch recht grob, weshalb manches plakativ daherkommt. Bis auf wenige Ausnahmen kreisen die Geschichten um das eine: die eigene Persönlichkeit. Aber sie handeln nicht (nur) von teenage angst: es ist, als sei die ganze Gesellschaft in einen Zustand von Identitätskrise und Selbstzweifeln geraten.
„Cool Britannia“? Indeed! Durch das Buch weht Kühle, nicht die Kühle ironischer Abgeklärtheit, sondern Gefühlskälte. Folgt man der Darstellung der zwölf Autoren, ist das Leben auf der Insel eine ziemlich neurotische Angelegenheit; teilweise spielt es sich sogar am Rande der Psychose ab – oder ist es der Alltag, der verrückt geworden ist? Die Geschichten handeln von Gedächtnisverlust, von Untreue und Verrat, für sprachlose Beziehungen zwischen Liebenden, zwischen Eltern und ihren Kindern. Fast entschuldigend weist Kennedy in ihrer Einleitung daraufhin, dass aus diesen Geschichten trotzdem kein Zynismus spricht: „Die Menschlichkeit dieser Schriftsteller und Schriftstellerinnen erfüllt ihre klarsichtigen Beobachtungen mit Leidenschaft, Empörung, Verwirrung, Schönheit und düsterem Humor.“
Im weiteren Sinne soziale Themen fehlen völlig, Symptom für eine Privatisierung, die den jungen Literaten selbstverständlich geworden ist. Alle Protagonisten arbeiten ständig an der Prozessoptimierung ihres Alltags. A. L. Kennedy schreibt in ihrem Vorwort: „Propaganda überlagert die Wahrheit, Gewalt lauert am Rande der Erfahrung, Isolation scheint unvermeidlich, junge Menschen sind unterwegs, auf der Suche nach kaum messbaren Fortschritten – wahrscheinlich kein Selbstbild, dass man in Großbritannien besonders angenehm fände.“ Vom neoliberalen Aufbruch in den 80er Jahren, als mit den alten Milieus auch der traditionelle Familiealltag unter Druck geriet, ist nichts oder nur ein versteckter Hinweis übriggeblieben. Die peinlich genau abgegrenzten Milieus von Kleinbürgern, Arbeitern und Bourgeoisie haben sich in einer diffusen klassenlosen Klassengesellschaft aufgelöst. Unter deren geschäftigen Oberfläche verbirgt sich eine Verzweiflung, die im eigentlichen Sinne grenzenlos ist, weil ihr jede Idee von Erlösung oder auch nur Veränderung fremd ist.
Übrig geblieben ist das Outsourcing der Seele und die Privatisierung der Welt. Das beschreiben die besten dieser Kurzgeschichten. Wie beispielsweise Gwendoline Rileys "Narziss des Nordens". Die Geschichte reiht sich in eine untergründige Tradition der britischen Literatur und Popkultur ein: in das Lied vom Seebad Blackpool. Dieses beliebte Ausflugsziel am Atlantik ist für jede neue Generation zum Symbol des Verfalls geworden. Seine verrottenden Piers und der verlassene Rummelplatz haben eine mystische Bedeutung erlangt: Symbol des andauernden Verfalls, der merkwürdigerweise immer neue Nahrung findet. Blackpool lässt jede neue Generation in Melancholie ertrinken, in Nostalgie für eine Ära, die es nie gab. Hierhin fahren Kelly und ihr neuer Freund, und obwohl ihnen beiden klar ist, das es mit ihnen beiden nichts werden wird, spielen sie sich gegenseitig eine Verliebtheit vor, die sie nicht empfinden. Ziellos streifen durch einen Freizeitpark, als der eine sagt:. „Komm wir sehen uns mal an, ob sie das Land der Zukunft repariert haben!“ Mit seiner Vergangenheit ist Cool Britannia auch die Zukunft abhanden gekommen.

A. L. Kennedy (Hg.): Cool Britannia - Junge Literatur aus Großbritannien. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach. 160 Seiten.

 

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