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Was die Linke interessieren wird
Die beiden Sammelbände Selbstorganisation und Kontroversen über den Zustand der Welt handeln ungefähr von allem.

"Der Zustand der Welt" – geht es nicht etwas genauer? Unter diesen Titel jedenfalls veröffentlichte Karl-Heinz Roth vor drei Jahren ein Buch, in dem er auf knapp 100 Seiten die Frage untersuchte, wie es denn mit den Aussichten für Sozialismus heute aussieht. Roth steht für "eingreifendes Denken", das sich andererseits souverän bei den universitären Methoden und Erkenntnissen (zum Beispiel bei der Weltsystem- und Regulationstheorie) bedient. Schon mehrmals hat der Bremer Historiker und Arzt linke Debatten angestoßen. Seiner Zeit voraus war er kurz nach der Wiedervereinigung, als er die Linke aufforderte, sich mit der "neuen Proletarität" auseinandersetzen. Seine Idee, in "proletarischen Zirkeln" den Widerstand gegen die neoliberale Offensive zu organisieren, fand damals kaum Widerhall.
Seine Thesen von 2004 sorgten immerhin in linksakademischen Kreisen für Auseinandersetzungen, die nun in einem neuen Buch mit dem Titel "Kontroversen über den Zustand der Welt" nachzulesen sind. Roth konstatierte, dass das globale kapitalistische System sich in einer zumindest sozialen Krise befindet: "Der Anteil der erwerbslos Gewordenen schwankt zwischen zehn Prozent in der transatlantischen Metropole und 25 bis 35 Prozent in den Schwellen- und Transformationsländern sowie der Peripherie. Auf diesem Sockel der >Überzähligen< baut sich eine Pyramide prekärer Arbeitsverhältnisse auf, die inzwischen überall auf der Welt vorherrschend geworden sind.” Als mögliche Gegenstrategie schlug Roth "kommunalsozialistische Initiativen" vor, durch die, je nach den örtlichen Gegebenheiten, die produktive und reproduktive Infrastruktur vergesellschaften sollten. Die nötige Vernetzung zwischen den selbstverwalteten Kommunen solle sich vor allem auf die Migranten und Transportarbeiter stützen. Auf diese Strategie gehen die Beiträge kaum ein. Roths große Synthese wird von den dreizehn Autorinnen und Autoren in Einzelfragen zerlegt, mit vielen Informationen angereichert und teilweise kritisch hinterfragt. Es geht um Umweltverschmutzung und Migration, Krieg und Arbeit, die Transportrevolution, den Weltmarkt und die europäische Sozialdemokratie. Was in Roths Überblicksdarstellung eindeutig wirkte, scheint vielen bei genauerer Betrachtung kompliziert: Gibt es tatsächlich die eine Globalisierung oder vielmehr verschiedene, gar zyklisch wiederkehrende Phasen, in denen der Weltmarkt sich ausdehnt und wieder schrumpft? Lassen sich die "neuen Protektorate" wie in Afghanistan oder Bosnien wirklich auf eine gemeinsame Strategie zurückführen?
Auch die "Reife" der Verhältnisse wird unterschiedlich beurteilt. Seit 1916 haben Linke Theoretiker dem Kapitalismus diagnostiziert, er läge in den letzten Zügen. Marcel van der Linden kritisiert die banale Vorstellung eines "Zusammenbruchs". Obwohl das Weltbruttosozialprodukt seit Beginn der 1970er-Jahren sinkt, stünden dem Kapital weiterhin Expansionsmöglichkeiten offen, besonders in Asien. Gerade weil die hegemoniale Weltmacht USA geschwächt sei, kehrten "kolonialistische Herrschaftspraktiken" zurück: Die Nationalstaaten wollen so unter anderem ihren Zugriff auf Ressourcen sichern. Heide Gerstenberger zeigt, wie die verstärkte internationale Konkurrenz seit 1973 die Nationalstaaten in "Agenturen der Standortkonkurrenz" verwandelt. Die wachsende Migration ist Bestandteil des weltweiten Arbeitsmarkt, der einer "Struktur der Apartheid" gehorcht. Georg Fülberth und Christoph Jünke diskutieren den Zustand der (deutschen) Sozialdemokratie inklusive der Linkspartei. Die versammelten Beiträge sind teils belanglos, teils sehr interessant. Auf jeden Fall bietet dieses Buch die Gelegenheit, herauszufinden, mit was die Linke sich auseinandersetzen wird müssen.

Nur auf den ersten Blick scheint das Thema des Sammelbandes "Selbstorganisation..." enger gefasst zu sein. Der sogenannte Neoliberalismus hat auch die Arbeit verändert, und zwar häufig insofern, dass den Beschäftigten Verantwortung für bestimmte Bereiche übertragen werden: das Kommando des Vorgesetzten wird tendenziell ersetzt durch das Kommando des Marktes. Die Herausgeber fragen nun, welche Auswirkungen diese "Selbstorganisation" der Lohnarbeit auf die Identität der Beschäftigten hat, und was dass für die Möglichkeit von sozialen Bewegungen bedeutet.
Leider hinterfragen manche der Autoren nicht, wie weit die Unabhängigkeit im "Postfordismus" tatsächlich geht. Besonders im ersten Teil des Buches gehen sie sozialphilosophisch statt empirisch an das Problem heran und unterscheiden kaum nach den verschiedenen Sektoren. Der Unterschied, den es macht, ob eine Altenpflegerin oder ein gut bezahlter Softwareentwickler ein bestimmtes Arbeitskontingent "selbstbestimmt abarbeitet", wird dadurch verwischt. Lars Meyers "Überlegungen" über die "Organisierte Selbstorganisation" ragen heraus: ein Überblick über die verschiedenen betrieblichen Strategien samt ihrer soziologischen Beschreibungen, denen Meyer einen marxistischen Erklärungsversuch gegenüber stellt. Im zweiten Teil werden dann beispielhaft Arbeitskämpfe und soziale Bewegungen dargestellt, im dritten der Begriff der Prekarisierung kritisiert. Allerdings bleibt der Zusammenhang zwischen der Selbstorganisation im Betrieb und Selbstorganisation des Widerstands vage. Dennoch sind viele der Analysen lesenswert. Denn es wird erstens deutlich, wie missverständlich es mittlerweile ist, Formen wie Scheinselbständigkeit oder Projektarbeit als "atypisch" zu nennen, weil die sogenannten "Normalarbeitsverhältnisse" längst die Ausnahme sind, auch unter den männlichen Facharbeitern. Und zweitens, dass kein Weg zurück in die Zeit vor der "bürgerlichen Revolution" des Postfordismus (Meyer) führt.

Marcel van der Linden / Christoph Lieber (Hrsg.): Kontroversen über den Zustand der Welt. Hamburg: VSA–Verlag.

Bologna / Danner / Hajek / Heide / Karathanassis / Meyer: Selbstorganisation. Transformationsprozesse von Arbeit und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus. Berlin: Die Buchmacherei.

 

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