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"Crowdsourcing"
In ihrem Buch „Wikinomics“ zeigen zwei Unternehmensberater, wie das Internet als Rationalisierungsmaschine wirkt – besser als die bisherigen Beiträge zur Kritik des "geistigen Eigentums" von links.

"In der Wirtschaft gewinnt der Peer–to–Peer–Zusammenschluss von Individuen auf Augenhöhe statt in herkömmlichen Firmenhierarchien gerade an Schwung." Nennt man das auch Arbeit: ein Buch besprechen, ohne es zu lesen? Holm Friebe entdeckt jedenfalls in seiner kurzen Besprechung des Buchs "Wikinomics" von Anthony Williams und Don Tapscott genau das, was er sucht.
"Massenkooperation ändert alles" lautet der Untertitel der englischen Ausgabe: der Erfolg der Internetenzyklopädie Wikipedia, Internetforen, Weblogs, Second Life und kostenloser Software soll einen "grundlegenden ökonomischen Wandel zeigen". Schon wieder? Alles neu macht das Netz? Internetprophetie 2.0? Steile Großthesen finden sich in der Managementliteratur zuhauf, aber an "Wikinomics" ist etwas dran.
Tapscott und Williams argumentieren, Unternehmen müssten sich "öffnen, um von der kooperativen Anarchie zu profitieren". Sie empfehlen, das betriebseigene Wissen zu veröffentlichen und Kunden und anderen Interessierten die Produkte mitgestalten zu lassen. "Das kollektive Wissen, die kollektiven Fähigkeiten und Ressourcen, die in dem breiten horizontalen Netzwerk schlummern, können aktiviert werden."
Wie das geht, zeigt die Geschichte von iStockphoto. Auf dieser "Community–Website" konnten Fotografinnen ihre digitalisierten Bilder präsentieren, wofür sie kleine Beträge zahlen (die sich zu einer erkleckliche Summe addiert). Nach einer Weile begannen Zeitschriften und Magazine, die Sammlung als Bildarchiv zu nutzen. Bei Abdruck zahlen sie den Bruchteil des einst üblichen Preises. 2006 kaufte die Agentur Getty Images das Unternehmen für 50 Millionen Dollar. Ein weiteres Beispiel ist Mechanical Turk, ein Angebot des Internetmarktes Amazon. Hier suchen und finden Unternehmen Online–Tagelöhner, denen sie eine Art digitalen Stücklohn zahlen. Die Firma Casting Words etwa verkauft Transkripte von Sprachaufnahmen. Für das Verschriftlichen einer einminütigen Aufnahmen zahlt sie ganze 19 US–Cent.

Den passenden Namen für den Zugriff auf nicht oder kaum entlohnte Arbeit erfand vor einem Jahr Jeff Howe, ein Redakteur des US–amerikanischen Magazins Wired: "Crowdsourcing", zusammengesetzt aus den englischen Wörtern für Menge und Auslagerung. "Im letzten Jahrzehnt oder so haben die Firmen im Ausland, in China und Indien nach billiger Arbeit gesucht“, schrieb Howe damals. Aber nun ist es egal, wo sich die Arbeitenden aufhalten – um die Ecke oder in Indonesien, solange sie mit dem Netzwerk verbunden sind."
Andere Wirtschaftswissenschaftler sprechen von "interaktiver Wertschöpfung" oder "peer production". Mehr als 100 000 Menschen aus über 100 Ländern bearbeiten heute Aufträge, die sie bei Mechanical Turk gefunden haben. Zahlreiche Internet-Firmen würden ohne Crowdsourcing nicht funktionieren. Häufig wird im Netz gearbeitet, ohne dass es die Internetnutzer bemerken. Sie versehen Bilder mit Schlagworten, bewerten Texte, diskutieren die beste Übersetzung und produzieren Information, die Firmen profitabel nutzen können. Oder sie entwickeln kollektiv Open Source–Software, mit deren Hilfe später Unternehmen eine Menge Geld verdienen. Und die fleißigen Amateure üben gewaltig Druck auf jene aus, die unglücklicherweise von ihren Löhnen leben müssen.
Die Unternehmensberater Williams und Tapscott verkünden nun das neue Zeitalter der Wikinomics. Wer in Zukunft die eigene Firma strikt nach außen abgrenze, habe keine Chance, in der Konkurrenz zu bestehen. Statt dem veralteten hierarchischen Unternehmen gehöre die Zukunft der "Community aus Kunden, Nutzern, Herstellern, Lieferanten, Händlern und anderen Quellen innovativen Wissens". Wikinomics sind eine tolle Sache: Alle tun etwas miteinander, was auf nicht weiter erläuterte Weise dazu führt, dass manche von ihnen reich werden!
Kommt also ein neues Zeitalter des Wassermanns, samt Frieden, Liebe und Rekorddividenden? Keineswegs: "Ja, es gibt Schmerz und Leid in Branchen und Firmen, die die neue ökonomische Logik noch nicht begriffen haben", schreiben Tapscott und Williams. Als die Computerfirma IBM Teile ihrer Produktion auf Open Source umstellte, sagte der Leiter der Planungsabteilung: "Wenn du es nicht tust, werden es deine Konkurrenten tun. Und wo bleibst du dann?" Die Rationalisierungsstrategie wird angetrieben von der Internationalisierung und Verschärfung der Konkurrenz. Sie lässt den Firmen keine andere Wahl, als alle Einsparmöglichkeiten zu nutzen.

Die Kritik des "geistigen Eigentums", die linke Akademiker und Netzaktivisten bisher entwickelt haben, blieb hinter der technischen und ökonomischen Entwicklung weit zurück. Das liegt daran, dass der "informationelle Kapitalismus" (Sabine Nuss) in aller Regel unter dem Aspekt des Konsums betrachtet wird und nicht das Internet als Produktionsmittel. Im Zentrum der Kritik stehen "Aneignungskonflikte", die dadurch entstehen, dass sich das digitale Produkt doch eigentlich kostenfrei vervielfältigen ließe. Sie richtet sich gegen die Profitinteressen, die das "geistige Eigentums" künstlich verknappen und propagiert den kostenlosen Tausch von Filmen und Medien, Open Source und einen liberalen Umgang mit dem Urheber- und Patentrecht.
Die linke Kritik unterscheidet sich in Wirklichkeit kaum von der Haltung der Kapitalisten, die an der Zirkulation im Netz verdienen. Auch Tapscott und Williams sind gegen die "Exzesse" bei der kommerziellen Ausbeutung von Patenten und Urheberrechten und vehement für Open Source: Wer die Massen für sich arbeiten lassen will, muss ihnen erlauben, die Werkzeuge und Rohstoffe anzufassen.
Viele Konzerne versuchen mittlerweile, ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen profitabel zu machen – entweder, indem sie ihre Erkenntnisse schützen lassen und dafür Lizenzen einnehmen, oder indem sie diese Erkenntnisse veröffentlichen, um mit Hilfe der Zuarbeiter neue Produkte zu entwickeln und selbst zu vermarkten. "Kluge Firmen behandeln das geistige Eigentum wie einen Investmentfonds", schreiben die beiden Unternehmensberater. "Sie managen ein gemischtes Portfolio unterschiedlicher Urheberrechte, einige geschützt, andere nicht."
Insofern räumt "Wikinomics" mit immer den immer noch vielfach verbreiteter Träumereien über das Internet und seine gesellschaftliche Rolle auf. Das gibt seinen Nutzern nicht die Produktionsmittel in die Hand. Was heute ohne fixes Kapital hergestellt und verbreitet werden kann (also beispielsweise Texte, Musik und Filme), wird tendenziell außer Wert gesetzt. Aber die Ratschläge, wie sich Autos, Mobiltelephone und Turnschuhe besser herstellen lassen, nimmt das Kapital möglicherweise dankend an, die dazu nötigen Maschinen behält es für sich wie eh und je.

Don Tapscott / Anthony Williams (2007) Wikinomics: Die Revolution im Netz, München: Carl Hanser Verlag. 324 Seiten.

 

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